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Impuls zum 10. März 2024

Zum 4. Fastensonntag

Von Ferdinand Kerstiens (Marl), pax christi Münster

Retten nicht richten

Evangelium Joh 3,14-21
Jesus sprach zu Nikodemus: wie Moses die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. Denn darin besteht das Gericht: Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.

Als ich in meinen Unterlagen nachschaute, habe ich festgestellt, dass ich genau zu diesem Evangelium vor drei Jahren auch den Sonntagsimpuls geschrieben habe – man kann diesen Text ja unter der Website von pax christi wieder aufrufen: Nicht richten, sondern retten: das ist dann auch die Aufgabe aller, die diesem Jesus folgen wollen, also auch deine und meine, der wir oft nicht gerecht werden. Es ist die Aufgabe der Kirche, der sie oft in Geschichte und Gegenwart nicht gerecht geworden ist und auch heute nicht gerecht wird. Aber: „Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht!“ Es geht also darum, unser Denken und Handeln immer neu danach auszurichten: retten nicht richten. Das sollte auch die innere und äußere Reform der Kirche deutlich machen. Der „Synodale Weg“ in Deutschland und die Weltsynode sollten diesem Ziel dienen.

Als ich meinen Text von damals las, ging mir plötzlich eine aktuelle Parallele zu diesen Fragen und Thesen durch Herz und Kopf: Ich erinnerte mich an meine spontane Reaktion auf die Äußerung unseres Verteidigungsministers: Wir müssten „kriegstüchtig“ werden. 

Nein, habe ich da sofort gedacht, wir müssen „friedenstüchtig“ werden. Darüber gab und gibt es Diskussionen. Was heißt das: „kriegstüchtig“ oder „friedenstüchtig“?  Ich sehe eine Parallele zu „richten“ oder „retten“. Denn es geht nicht nur um diese oder jene Maßnahme, sondern um die grundsätzliche Richtung unseres Denkens und Handelns. Ist der jeweilige Gegner der „Böse“, den ich besiegen muss, oder gibt es alternative Strategien, die helfen, Frieden zu ermöglichen? Es gibt zwei Alternativen der Logik, wie ich jeweils mit Konflikten umgehen kann: Die Sicherheitslogik oder die Friedenslogik. Dabei erinnerte ich mich an einen alten Flyer der Aktion „gewaltfrei handeln“. Klaus Hagedorn hat mir geholfen, ihn wiederzufinden:

„Sicherheitslogik
Was ist das Problem? Bedrohung, Gefahr, Unsicherheit. Handlungen orientieren sich an Gefahrenabwehr und Verteidigung. 
Wodurch ist das Problem entstanden? Durch andere, von außen kommend. Handlungen zielen auf Schuldzuschreibung, Sicherung und Wahrung der eigenen Interessen. 
Wie wird das Problem bearbeitet? Durch Verteidigung und Selbstschutz. Handlungsansätze nutzen: einseitige, auch eskalationsträchtige Mittel, Ausbau des Sicherheitsapparates, Abschreckung, Androhung oder gar Anwendung direkter Gewalt. 
Wodurch wird eigenes Handeln legitimiert? Mit dem Vorrang eigener Interessen. Handlungsansätze verfolgen: Die Relativierung, Unterordnung und Anpassung von Werten/Normen an die eigenen Interessen. 
Wie wird auf Misserfolge reagiert? Mit Selbstbestätigung ohne Selbstkritik. Handlungsansätze richten sich auf: Das Verschärfen der bisher eingesetzten Mittel, ggf. Abwenden und Rückzug.

Friedenslogik
Was ist das Problem? Jede Gewalt, die bevorsteht, stattfindet, stattgefunden hat. Handlungen orientieren sich an: Schutz vor Gewalt und Not – Gewaltprävention, -abbau und -nachsorge.
Wodurch ist das Problem entstanden? Als Folge destruktiver Konfliktdynamiken. Handlungen zielen auf: Transformation auf der Grundlage eines umfassenden Konfliktverständnisses – eigene Anteile einbeziehend.
Wie wird das Problem bearbeitet? Durch zivile Konfliktbearbeitung. Handlungsansätze nutzen: Deeskalierende, dialogische, vertrauensbildende, kooperative Mittel – unter Ausschluss direkter Gewalt.
Wodurch wird das eigene Handeln legitimiert? Mit dem Ethos der Humanität – Menschenrechte und Völkerrecht. Handlungsansätze verfolgen: die Umsetzung von Normen, die Veränderung von eigenen Interessen, das Anerkennen legitimer Interessen anderer.
Wie wird auf Misserfolge reagiert? Mit Selbstreflexion, Erfahrungslernen und Fehlerfreundlichkeit. Handlungsansätze richten sich auf: Konstruktive Fehlerkultur, Schadensvermeidung durch Wirkungsabschätzung, Schließung von Wahrnehmungslücken, Umsetzung von gewaltfreien Alternativen.“

Ich will hier nicht Schwarz-Weiß malen und die beiden Logik-Verständnisse den einen oder den anderen politischen Kräften zuschreiben. Ich habe aber den Eindruck, dass sich das öffentliche Bewusstsein immer mehr in Richtung Sicherheitslogik verschiebt, die dann zur Kriegslogik wird. Die setzt immer mehr auf Waffen, auf Sieg, unabhängig, was das an Menschen und an Ressourcen kostet. Aber der militärische Sieg schafft keinen Frieden. So wird ein militärischer Sieg Israels über die Hamas mit den Tausenden von zivilen Toten und dem Elend der Flüchtenden im eigenen Land den Hass der Ohnmächtigen nur weiter schüren und neue Hamas-Kämpfer produzieren. Auch bei einem Sieg Russlands oder der Ukraine bleibt das Gedächtnis von Unrecht und Gewalt, das Gedächtnis der vielen Toten auf beiden Seiten die Wurzel von weiterem Unfrieden und Gewalt. Auch wenn die eine oder die andere Seite militärisch gewinnt, entsteht dadurch kein Friede. Deswegen müssen schon jetzt bei allen laufenden Konflikten und Kriegen jeweils die verschiedenen Aspekte der Friedenslogik eingebracht werden, wenn überhaupt Versöhnung und Frieden möglich werden sollen. So bleibt es die Aufgabe, auch die Chance der Christinnen und Christen, der christlichen Kirchen, wenn sie der Botschaft Jesu treu bleiben wollen, wenn sie „die Wahrheit tun“ wollen, die Friedenslogik auf allen Ebenen immer wieder neu einzubringen. Gerade hier sehe ich die Aufgabe von pax christi. 

In diesem Sinne verstehe ich das Wort von Bischof Kohlgraf: 
„Als Präsident von pax christi nehme ich mit immer größerer Besorgnis wahr, dass kriegerische Mittel und Waffeneinsätze zur Normalität werden und Menschenleben nicht mehr zählen; dass Waffenlieferungen als einziges Mittel der Konfliktlösung angesehen werden, und es keine Perspektive zu geben scheint, an echten Friedenslösungen zu arbeiten. Wie wird eine Welt nach diesem Krieg aussehen, in der sich auch nicht die kleinsten Bemühungen um Verständigung, Versöhnung und Gemeinschaft abzeichnen, geschweige denn von Versöhnung? Versöhnung braucht Gerechtigkeit, Friede braucht Gerechtigkeit. Ich sehe keine Bemühungen, auf diesem Weg weiter zu kommen. Ich sehe außer dem Wunsch nach „Sieg“ auf beiden Seiten keine Friedensvisionen für die Zukunft, die Menschen ein gutes Leben ermöglichen.“

Damit sind wir wieder bei unserem Evangelium: „Richten“ setzt auf den Sieg über das Böse; „Retten“ heißt, in allen Konflikten auf die Minimierung der Gewalt zu setzen, das Leben und die Würde möglichst aller Menschen auf beiden Seiten der Konfliktparteien zu retten. Es geht also darum, die Friedenslogik gegen die Kriegslogik stark zu machen. Dazu gehört dann auch, die eigenen Fehler, die eigene Beteiligung an den Konflikten ehrlich zu analysieren und zu überwinden. Dies fällt ja bei der Kriegslogik völlig aus. Da gibt es nur einseitige Schuldzuweisung. Es geht bei der Friedenslogik also nicht primär um Waffenlieferung oder nicht, sondern um die umfassende Grundeinstellung in der Suche nach Frieden und Menschenwürde, um die Perspektive unseres Handelns. Nur von hier aus sind dann hilfreiche Einzelbeschlüsse und Handlungen möglich, über die im Einzelnen gewaltfrei, das heißt auch ohne gegenseitige Diffamierung, gestritten werden mag. 

Es lohnt sich, alle einzelnen Punkte der Friedenslogik auf die bestehenden Konflikte nicht nur Russland/Ukraine und Israel/Hamas, sondern auch auf die weltweite wirtschaftliche Ungerechtigkeit, auf das Lieferkettengesetz, auf die Frage nach der Zukunft der vielen zur Flucht Getriebenen anzuwenden. Es täte dem „Westen“ auch gut, im Sinne der Friedenslogik die Kriege in Vietnam, Libyen, Serbien, Irak, Afghanistan etc. aufzuarbeiten, um die eigene Schuld daran neu zu werten und von dem hohen Ross herabzusteigen, man wäre selber nur der Gute und alle anderen der Böse, den es zu besiegen gelte. Das alles würde hier zu weit führen, zumal wir das Gleiche auch noch einmal im Blick auf unsere persönlichen Konflikte durchdenken müssten, um auch da friedenstüchtig zu werden. 

Es geht um unsere Grundeinstellung, aus der sich jeweils unser konkretes Handeln ergibt. „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern, dass die Welt durch ihn gerettet wird.“ Und: Wer in seiner Nachfolge diese „Wahrheit tut, kommt ans Licht!“

Guter Gott,
wir Menschen sind ständig in Gefahr,
uns ein fertiges Bild von anderen zu machen,
sie einzuschätzen und in bestimmte Schubladen zu stecken,
über andere zu richten und sie festzunageln auf ihre Schuld.
Dabei huldigen wir oft nur unseren eigenen Vorurteilen und
leugnen unsere eigene Schuld an den Konflikten.
So werden wir mitschuldig an der Gewalt in unserer Welt
im persönlichen Bereich und in Gesellschaft und Politik.
Du bist der einzige,
der uns so sieht, wie wir sind,
der in Wahrheit über uns richten könnte.
Ausgerechnet du aber willst nicht richten, sondern retten.
Hilf uns zu Einsicht und Bekehrung,
damit wir friedenstüchtig werden
und dem Lebensrecht aller Menschen dienen.
Hilf uns, dass wir diese Wahrheit annehmen
und uns in dir geborgen wissen
mit allem, was in uns verbogen und falsch ist
mit allem Guten in uns, das wir dir verdanken.

PS: Die deutschen Bischöfe haben ein neues Friedenswort veröffentlicht „Friede diesem Haus“. Ich konnte bisher nur die Berichte und Kommentare dazu lesen, nicht den Text selbst. Ich hoffe, dass er die Friedenslogik im heutigen gesellschaftlichen und politischen Diskurs stark macht.